19 I Rotes Wien: Modell und historische Realität

 
6. April 2018
10:45–12:15
Seminarraum 7


Veronika Duma (Wien/Frankfurt am Main)
Handlungsspielräume und Geschlecht. Eine Frauenbiografie im gesellschaftspolitischen Kontext  


Birgit Nemec (Wien/Heidelberg)
Die Körper der Neuen Menschen. Medizin und Moderne im Roten Wien
Vortrag abgesagt


Werner Michael Schwarz (Wien)
„Rote Wiener_innen?“ Konzepte und Praktiken von In- und Exklusion im Roten Wien


Gernot Waldner (Cambridge)
Politische Werte in der Literatur. Vergangenheit und Gegenwart einer intellektuellen Verlegenheit

 


Die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise, die Erosion parlamentarischer Demokratien und das Erstarken populistischer Parteien erinnern viele an die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Der Untergang der Weimarer Republik ist das Schreckensbild des neuen Geschichtsfatalismus, das Rote Wien hingegen ein Hoffnungsschimmer für viele, die nach konkreten historischen Alternativen in einer Zeit fragen, in welcher der Faschismus noch nicht gesiegt hatte. Das Rote Wien dient heute als wieder zu entdeckendes Modell, das für Strategien städtischer ökonomischer Krisenbewältigung, der Re-Demokratisierung urbanen Raums oder der Frage der Wohnbaupolitik als Vorbild und Vergleichsfolie herangezogen werden kann. Das Panel beschäftigt sich mit lange Zeit weniger beachteten Aspekten dieses Modells und der historischen Situation in der Stadt: mit Migrationsdynamik, Biopolitik, ästhetischer Erziehung und dem Kampf der Geschlechter um Handlungsspielräume.

 

Chair: Georg Spitaler (Wien)

Veronika Duma (Wien/Frankfurt am Main): Handlungsspielräume und Geschlecht. Eine Frauenbiografie im gesellschaftspolitischen Kontext

Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Diskussionen zur Krise oder zur gesellschaftlichen Polarisierung in Europa, gewinnt der Blick auf die Zeit zwischen den zwei Weltkriegen, die nicht nur von sozialreformerischen Projekten wie vom Roten Wien, sondern zugleich von der Weltwirtschaftskrise, dem Erstarken autoritärer Kräfte und dem Ende der Demokratie geprägt war, erneut an Relevanz. Dies gilt auch für die Frage, inwiefern patriarchale Strukturen und eine hierarchische Ordnung der Geschlechter einen zentralen Bestandteil autoritärer Herrschaftsformen darstellen. Anhand der Biografie der sozialdemokratischen Politikerin Rosa Jochmann (1901–1994) lässt sich in exemplarischer Weise zeigen, dass die Schließung und Öffnung von (politischen) Handlungsräumen und Geschlechtergerechtigkeit eng mit dem Kampf um Demokratisierung und dem gegenläufigen Prozess der Entdemokratisierung in allen Lebensbereichen verbunden ist.

Birgit Nemec (Wien/Heidelberg): Die Körper der Neuen Menschen. Medizin und Moderne im Roten Wien

Die Nachwirkungen der Verbindung von Wissenschaft, medizinischer Versorgung und urbanem Alltag, wie sie im Wien der Zwischenkriegszeit entworfen wurden, sind unübersehbar: Im Rahmen eines Fürsorgesystems, das internationalen Modellcharakter erreichte, entstand etwa das Säuglingswäschepaket; mit dem Wickelrucksack werden in Wien geborene Kinder bis heute ausgestattet. Kritische Aufmerksamkeit fand zuletzt aber auch der Umstand, dass die sozialdemokratische Stadtverwaltung Debatten zu Gesundheit und Krankheit im Sinn einer Umwandlung der Stadtbewohner in Neue Menschen führte, die neben klassenkämpferisch-emanzipativen Gedanken von biopolitisch-eugenischen Überlegungen geleitet waren. Mein Vortrag beleuchtet anhand von ausgewählten Schlüsselquellen die Ambivalenzen und Wiedersprüche, die die Konfigurationen des Körpers im Roten Wien umgaben und zeigt, wie die widersprüchlichen Formen der biopolitischen Erneuerung in divergierenden Visionen einer Erneuerung des Alltags verwurzelt waren.

Werner Michael Schwarz (Wien): „Rote Wiener_innen?“ Konzepte und Praktiken von In- und Exklusion im Roten Wien

Aus der sozialdemokratisch regierten Stadt nach 1918 wurde in Selbst-, Fremd- und Feindbildern sowie in der historischen Retrospektion das „Rote Wien“. Das Branding wirkte so stark, dass diesem häufig Subjektstatus zuerkannt wurde und wird. Das hat teilweise Fragen nach den „Roten Wiener_innen“, nach den Akteur_innen und Adressat_innen der städtischen (Wohlfahrts)Politik in den Hintergrund gerückt. Das erscheint vor allem mit Blick auf die ungebrochen metropolitane Dynamik Wiens in den frühen 1920er-Jahren relevant, die von großen Zu- und Abwanderungsbewegungen gekennzeichnet war. Im Kontext des Ersten Weltkrieges und der ersten Nachkriegsjahre wurde Wien zu einem für Europa bedeutsamen Transit- und Zielort für Flüchtlinge, Vertriebene und politisch Verfolgte insbesondere aus Ost- und Südeuropa. Der Vortrag fokussiert im Kontext dieser Migrationsbewegungen auf Fragen nach Konzepten und Praktiken von In- und Exklusion im Roten Wien.

Gernot Waldner (Cambridge): Politische Werte in der Literatur. Vergangenheit und Gegenwart einer intellektuellen Verlegenheit

Seit ihrer Begründung vermittelt Kinder- und Jugendliteratur moralische und politische Werte. Der Vortrag untersucht das Verhältnis zwischen dem Bildungsprogramm des Roten Wien und literarischen Texten, die von der Partei nahe stehenden Autor_innen publiziert wurden. Der „dritte Weg“ der SDAP verfolgte weder eine bolschewistische Machtergreifung noch eine sozialdemokratische Reformpolitik sondern versuchte, die Arbeiter_innen so zu erziehen, dass der Sozialismus auf demokratischem Weg realisiert werden könnte. Theoretisch wurde dabei einerseits die subjektive Bildung des Bewusstseins betont und andererseits an der Gesetzmäßigkeit marxistischer Geschichtsbilder festgehalten. Die Kombination aus subjektivem Wollen und objektiver Gesetzmäßigkeit ist der zentrale Widerspruch dieses Bildungsprogramms. Der Vortrag argumentiert, dass die Literatur dieser Zeit (Kaus, zur Mühlen, Brunngraber) sich an diesem Widerspruch abarbeitet und dabei zu Antworten kommt, die auch noch in der Gegenwart Gültigkeit haben könnten.