33 I Translokationen von Kunst- und Kulturgut unter dem NS-Regime und in der Nachkriegszeit. Projekte zur digitalen Rekonstruktion


7. April 2018
11:00–12:30
Seminarraum 4


Susanne Hehenberger (Wien)
Die Zentraldepotkartei(en). Eine Online-Edition als Beitrag zur Verwaltungsgeschichte beschlagnahmter Kunstwerke


Lisa Frank (Wien)
Digitale Quellen der Provenienzforschung im Bundesdenkmalamt


Meike Hopp (München)
Geraubte Raubkunst? Rekonstruktion des „Führerbau-Diebstahls“ in München Ende April 1945


Leonhard Weidinger (Wien)
Von der Digitalisierung der Quellen zur Rekonstruktion der Netzwerke?

 

Entziehungen und Umverteilungen von Kunst- und Kulturgut im NS-Regime fanden ihren Niederschlag in zahlreichen Dokumenten, die wiederum ab 1945 – soweit noch vorhanden – als Quellen für die Aufarbeitung des nationalsozialistischen Kunstraubs und die Vorbereitung von Restitutionen genutzt wurden und damit zum Entstehen weiterer Archivalien führten. Seit 20 Jahren arbeitet die Provenienzforschung mit diesen für sie wesentlichen Quellenbeständen, seit über zehn Jahren setzt sie für deren Erfassung und Auswertung digitale Techniken ein. In diesem Panel sollen webbasierte Projekte aus Österreich und Deutschland vorgestellt werden, die zu verschiedenen Zeiten mit unterschiedlichen Zielsetzungen realisiert wurden. Anhand dieser Beispiele sollen in einem abschließenden Beitrag technische und methodische Entwicklungen der letzten Jahre sowie mögliche Perspektiven für Kooperationen aufgezeigt werden.

 

Chair: Birgit Kirchmayr (Linz)

Susanne Hehenberger (Wien): Die Zentraldepotkartei(en). Eine Online-Edition als Beitrag zur Verwaltungsgeschichte beschlagnahmter Kunstwerke

Im Herzen Wiens wurde im Herbst 1938 auf Vorschlag des kommissarischen Leiters des Kunsthistorischen Museums (KHM) Fritz Dworschak das „Zentraldepot für beschlagnahmte Sammlungen“ eingerichtet. Im ersten Stock der Neuen Burg wurden Kunstgegenstände gelagert, die ihren als jüdisch geltenden EigentümerInnen durch das NS-Regime seit März 1938 entzogen worden waren und später an verschiedene Museen, u.a. das in Linz geplante „Führermuseum“, verteilt werden sollten. Bis Juli 1940 verwaltete das KHM das Depot, danach bis zur Auflösung das Institut für Denkmalpflege, das heutige Bundesdenkmalamt. Die in beiden Institutionen überlieferten Karteikarten – jene des BDAs wurden nach 1945 weiterbenutzt – können mit der für Ende 2017 geplanten Edition erstmals virtuell durchblättert sowie volltextdurchsucht werden. Das von der „Kommission für Provenienzforschung“ und vom KHM gemeinsam umgesetzte Projekt will historisches Bewusstsein schaffen und Erkenntnisse über die Wege der geraubten Objekte befördern.

Lisa Frank (Wien): Digitale Quellen der Provenienzforschung im Bundesdenkmalamt

Im Archiv des Bundesdenkmalamts werden zentrale Quellen für die Arbeit der Provenienzforschung verwahrt, die nicht nur Aufschluss über Vorgänge des NS-Kunstraubes bieten, sondern auch den Entzug konkreter Sammlungen und von Einzelobjekten nachvollziehbar machen. Dies sind in erster Linie die Restitutions- und Ausfuhrmaterialien (bis 1977), die vom Büro der „Kommission für Provenienzforschung“ verwaltet und ausgewertet werden. Teile dieser Bestände wurden bereits digitalisiert oder befinden sich aktuell in Bearbeitung, wie beispielsweise die Sicherstellungskartei, die detaillierte Informationen und Fotos zu 75 Sammlungen und deren Verbleib enthält. Sie wurde bereits transkribiert und gescannt und ist für einen eingeschränkten ForscherInnenkreis in Wort und Bild zugänglich. Die Münchner Suchkartei, die nach Kriegsende im „Central Collecting Point München“ gesuchte Kunstwerke verzeichnet, wird aktuell nach dem gleichen Schema digitalisiert.

Meike Hopp (München): Geraubte Raubkunst? Rekonstruktion des „Führerbau-Diebstahls“ in München Ende April 1945

In der Nacht vom 29. auf den 30. April 1945 – nach Abzug der SS-Wachmannschaften und vor Einmarsch der amerikanischen Truppen – wurde der „Führerbau“ am ehemaligen NS-Parteiforum von der Münchner Bevölkerung geplündert. Was genau gestohlen wurde, gehört erstaunlicherweise noch immer zu den dringenden Desideraten der Provenienzforschung, gelten doch mehrere hundert Gemälde, die u.a. noch bis Herbst 1944 aus den besetzen Gebieten für das geplante „Führermuseum“ in Linz erworben worden waren, bis heute als verschollen – darunter große Teile der 1943 in Frankreich beschlagnahmten Sammlung Adolphe Schloss. Ziel eines laufenden Projekts am Zentralinstitut für Kunstgeschichte München ist die umfängliche digitale Rekonstruktion des Diebstahls im April 1945 und die Erarbeitung eines Überblicks zu Herkunft und Schicksal der Objekte. Eine validierte Datenbank soll es Museen, SammlerInnen und dem Handel ermöglichen, Werke gezielt zu prüfen und im Umlauf befindliches NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut zu identifizieren.

Leonhard Weidinger (Wien): Von der Digitalisierung der Quellen zur Rekonstruktion der Netzwerke?

Ein Großteil der Quellen zu Entziehungen und Translokationen von Kunst- und Kulturgut im NS-Regime und in der Nachkriegszeit sind Karteikarten und Listen. Zwar handelt es sich hier um inventarische Abbilder der erfassten Objekte, allerdings muss deren Qualität unter Berücksichtigung der Entstehungsumstände überprüft werden. Digitale Werkzeuge können die Erfassung und quellenkritische Analyse dieser Quellen unterstützen. In der Provenienzforschung werden seit über zehn Jahren digitale Projekte realisiert. Die Nähe zwischen täglicher Recherche und der Entwicklung der digitalen Werkzeuge bietet die Möglichkeit, aus früheren Projekten – auch in deren praktischer Anwendung – zu lernen. Der permanente Austausch in diesem Feld erstreckt sich dabei über Österreich hinaus, denn der NS-Kunstraub betraf das gesamte vom Deutschen Reich kontrollierte Gebiet, seine Aufarbeitung kann daher nicht innerhalb heutiger Staatsgrenzen erfolgen.