36 I Kontinuitäten der Stigmatisierung: „Asozial“ im Nationalsozialismus und die Fortschreibung im Exil und in der Nachkriegsgesellschaft
7. April 2018
11:00–12:30
Seminarraum 8
Brigitte Halbmayr (Wien)
Die Verfolgung von als „asozial” stigmatisierten Frauen im Nationalsozialismus
Alexander Prenninger (Salzburg)
Grund der Verhaftung: „Asozial“ – Zur Klassifizierung von KZ-Häftlingen
Helga Amesberger (Wien)
„Inhaftierung aufgrund liederlichen Lebenswandels”. Der behördliche Umgang mit als „asozial“ Verfolgten in Österreich nach 1945
Regina Thumser-Wöhs (Linz)
Flucht & Sucht: Beschaffungs- und Entzugsräume im Exil
Der „Erlass über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“ vom Dezember 1937 bildete die rechtliche Basis zur Verfolgung jener Personen, die als innere Bedrohung für das „Herrenvolk“ galten. Zehntausende wurden wegen ihres (vermeintlichen oder tatsächlichen) Verhaltens (z.B. Drogen-/Alkoholsucht, Promiskuität, Verweigerung des Arbeitsdienstes) in Arbeitserziehungsanstalten oder Konzentrationslager eingewiesen. Das sogenannte „Giftgesetz“ aus dem Jahr 1929 traf ab 1938 auch die süchtige „Elite“. Für süchtige Exilant_innen war ab Kriegsausbruch die Beschaffung von Drogen erschwert, bei deviantem Verhalten drohte ihnen die Zwangseinweisung bis hin zur „Abschaffung“. Das Stigma der „Asozialität“ fiel mit Kriegsende nicht von den Betroffenen ab. Vielmehr blieb ihnen sowohl die rechtliche Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus als auch die gesellschaftliche Rehabilitierung versagt. In den Vorträgen werden am Beispiel ehemaliger Häftlinge in den KZ Mauthausen und Ravensbrück sowie Exilant_innen die Strukturen und Mechanismen der Ausgrenzung erörtert.
Dieses Panel wurde vom ZGT18-Team um einen Vortag erweitert.
Chair: Alexander Pinwinkler (Salzburg)
Brigitte Halbmayr (Wien): Die Verfolgung von als „asozial” stigmatisierten Frauen im Nationalsozialismus
„Arbeitsverweigerung“, „Geheimprostitution“, „Triebhaftigkeit, „Verwahrlosung“, „mittel- und unterstandslos“, „Willensschwäche“, „liederlicher“ Lebenswandel – so lauten Begründungen, warum Frauen verhaftet und in Arbeitsanstalten oder Konzentrationslager eingewiesen wurden. Manche wurden zudem zwangssterilisiert, wenn ihre „Asozialität“ als erblich bedingt beurteilt worden war.
In meinem Vortrag werde ich mich am Beispiel der Asozialenverfolgung in Wien mit der Frage beschäftigen, wann eine als „asozial“ stigmatisierte Frau welcher Maßnahme „zugeführt“ wurde. Dabei werden Verfolgungswege von Häftlingen der Konzentrationslager Ravensbrück und Uckermark mit jenen in den Arbeitsanstalten „Am Steinhof“ und „Klosterneuburg“ angehaltenen Frauen verglichen. Zudem werde ich die treibenden Kräfte der Verfolgungsmaschinerie (Kriminalpolizei, Gesundheitsämter, Erziehungsanstalten) sowie demografische Charakteristika der insgesamt sehr heterogenen Gruppe der „Asozialen“ in den Blick nehmen.
Alexander Prenninger (Salzburg): Grund der Verhaftung: „Asozial“ – Zur Klassifizierung von KZ-Häftlingen
Die Lagergesellschaft der Konzentrationslager war geprägt durch die Einteilung der Gefangenen in bestimmte Kategorien durch die Lager-SS. Diesem Kategoriensystem wird sowohl von Überlebenden wie auch der Forschung ein maßgeblicher Einfluss auf das Zusammenleben der Gefangenen im Lager und die Überlebenschancen zugeschrieben. Die „Etikettierungsmacht“ der SS war damit das primäre Gliederungsmerkmal unter den Gefangenen und beeinflusste auch den Ein- und Ausschluss von bestimmten Häftlingsgruppen im Gedenken nach 1945. Viele Überlebende, aber auch Forscher_innen haben darauf hingewiesen, dass die Zuordnung der Winkel und Kategorien sich im Lauf der Zeit ändern konnte und oftmals willkürlich erfolgte. In diesem Vortrag soll erstmals eine empirische Untersuchung der Zuordnung von Haftkategorien am Beispiel der sogenannten „Asozialen“ erfolgen, die auch nach der Befreiung weiterhin stigmatisiert blieben. Die Ergebnisse beruhen auf der Auswertung eines Samples von Häftlingspersonalkarten.
Helga Amesberger (Wien): „Inhaftierung aufgrund liederlichen Lebenswandels”. Der behördliche Umgang mit als „asozial“ Verfolgten in Österreich nach 1945
Personen, die durch das nationalsozialistische Regime als „Asoziale“ verfolgt wurden, waren von Fürsorge- und Entschädigungsleistungen nach dem Opferfürsorgegesetz ausgeschlossen. Mit der gesetzlichen Grundlegung des Ausschlusses wurde zu einem großen Teil die nationalsozialistische Sichtweise und Argumentation übernommen. Dies kann allerdings nicht über den Handlungsspielraum der Bürokratie hinwegtäuschen, der zum Vor- oder Nachteil der AntragstellerInnen genutzt werden konnte. Im Zentrum meines Vortrags steht die Kontinuität der Stigmatisierung von als „asozial“ verfolgten weiblichen Häftlingen des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück durch österreichische Behörden nach 1945. Ausgehend von relevanten gesetzlichen Regelungen werde ich anhand von Verwaltungsakten zeigen, wie diese umgesetzt wurden und inwiefern die Erhebungen der Behörden, deren Wortwahl und Begründungen in den Bescheiden auf eine Fortsetzung der Stigmatisierung und Diskriminierung schließen lassen.
Regina Thumser-Wöhs (Linz): Flucht & Sucht: Beschaffungs- und Entzugsräume im Exil
Nach einer zunehmenden Kriminalisierung des Drogenkonsums zu Beginn des 20. Jahrhunderts lag einer der Höhepunkt der Verfolgung Drogensüchtiger in der NS-Zeit. Der Zuschreibung von Asozialität folgten unter anderem der Zwangsentzug sowie die Einweisung in ein Arbeits- und/oder Konzentrationslager. Viele der drogenkonsumierenden Intellektuellen und Künstler_innen gingen aus Gründen der rassischen und/oder politischen Verfolgung ins Exil. Die klandestine Praxis des Drogenkonsums unter Exilant_innen wurde bislang nicht untersucht. Kriegsbedingt verschärfte sich für sie ab 1939 die Problematik der Beschaffung von Drogen. Dennoch lässt sich ein „Transfer“ der Sucht/der Suchtnetzwerke in die Aufnahmeländer nachweisen. Süchtige Exilant_innen, die straffällig wurden bzw. deren deviantes Verhalten Aufsehen erregte, drohte die Zwangseinweisung bis hin zur „Abschaffung“ aus den USA – ein Phänomen, das sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Provinz gleichermaßen findet wie etwa in den Großstädten von Paris bis New York.