40 I Jüdische Differenz und Populärkulturen im Wien der Zwischenkriegszeit - und die Auswirkungen im Nationalsozialismus
7. April 2018
14:00–15:30
Seminarraum 8
Bernhard Hachleitner (Wien)
Das Wien der Zwischenkriegszeit als Möglichkeitsraum: Ökonomie – „Jewish Difference“ – Populärkulturen
Matthias Marschik (Wien)
Das „unpolitische“ Wien der Zwischenkriegszeit: Populärkulturelle Konstruktionen von Jewish Difference zwischen „Rotem Wien“ und „Black Vienna“
Marie-Noëlle Yazdanpanah (Wien)
Die Ausverhandlung von „Jewish Difference“ in der Bildillustrierten „Die Bühne“
Michaela Raggam-Blesch (Wien)
Prekäres jüdisches Leben in Wien, 1943–45. „Mischehefamilien“ und „Ältestenrat“
Das aktuell vieldiskutierte Modell der „Jewish Difference“ wie es z.B. von Lisa Silverman auf das Wien der Zwischenkriegszeit angewendet wird, scheint einen neuen theoretischen Zugang zur „Jewishness“ zu bieten, der die Ansätze von „Jewish Identity / Identification“ und Performanz verbindet und integriert. Am Beispiel populärkultureller Praxen soll die Brauchbarkeit des Konzepts demonstriert, zugleich aber überprüft werden, wie weit kritische Einwände berechtigt sind. Denn manchen der Populärkulturen, die sich (nicht nur) im Wien der 1920er-Jahre aus künstlerisch-elitären Entwicklungen des Fin de Siècle entwickelt und ausdifferenziert haben, schien das Potenzial zu einer Einebnung oder gar Aufhebung der Differenz inhärent zu sein – obwohl (oder gerade weil) sich Jüdinnen und Juden speziell in diesen jungen Feldern engagierten und etablierten und dort nicht nur neue Betätigungschancen fanden, sondern auch Orte selbstbestimmterer und diversifizierterer Ausverhandlungen von Identität.
Dieses Panel wurde vom ZGT18-Team um einen Vortag erweitert.
Chair: Roman Horak (Wien)
Bernhard Hachleitner (Wien): Das Wien der Zwischenkriegszeit als Möglichkeitsraum: Ökonomie – „Jewish Difference“ – Populärkulturen
Anhand konkreter Beispiele soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern das Wien der Zwischenkriegszeit, speziell seine Populärkulturen, Räume für Juden (und Jüdinnen) eröffnete, die Möglichkeiten in Bezug auf vergleichsweise egalitäre und selbstbestimmte Aktivitäten bereithielten – in ökonomischer Hinsicht wie auch für performative Identitätskonstruktionen. Gerade in den neuen massenkulturellen und konsumistischen Praxen entstanden potenzielle Felder der Neuverhandlung von „Jewish Difference“ bis hin zu ihrer möglichen Aufhebung. Werbung, Marketing und Medien, von der Massenpresse bis zum Radio spielten dabei eine zentrale Rolle. Den Rahmen bildeten die Strukturen des Roten Wiens, das ab 1918 einerseits als Auftraggeber für innovative Akteur_innen fungierte, andererseits Möglichkeitsräume im Sinne eines Teilhabeversprechens schuf, die von Jüdinnen und Juden – aber auch von anderen minoritären Gruppen – einerseits exemplarisch genutzt, andererseits aktiv definiert wurden.
Matthias Marschik (Wien): Das „unpolitische“ Wien der Zwischenkriegszeit: Populärkulturelle Konstruktionen von Jewish Difference zwischen „Rotem Wien“ und „Black Vienna“
Die modernen, englischen „sports“, wie sie ab 1890 in Wien etabliert wurden, eröffneten ab den 1920er Jahren ein wirkmächtiges Feld der Populärkultur: Zwischen Roten Wien und Black Vienna, zwischen dem sozialdemokratischen Arbeiter_innensport und den dezidiert politisch agierenden nationalen Räumen der Turnbewegung, des Skisports und Alpinismus wurde ein, nach Selbstdefinition „unpolitischer“, Sport etabliert. In dessen Rahmen engagierte sich eine große Zahl von Juden als Aktive und besonders als Funktionäre, die sich durch ein hohes Maß an Kongruenz bezüglich Geschlecht, Alter und Status (aber gerade nicht bezüglich ihrer Stellung zum jüdischen Glauben) auszeichneten. In dieser Populärkultur des Sports entwickelten sich spezifische Ausverhandlungsmuster von „Jewish Difference“, die bis zum März 1938 auf der Basis von Neuheit und scheinbarer „Neutralität“ alternative Wege performativer Identitätsentwürfe und -konstruktionen entwarfen.
Marie-Noëlle Yazdanpanah (Wien): Die Ausverhandlung von „Jewish Difference“ in der Bildillustrierten „Die Bühne“
Die Ausverhandlung von „Jewish Difference“ in der Bildillustrierten „Die Bühne“
Die nach dem Ersten Weltkrieg sich ausdifferenzierenden und zunehmend massenwirksamen Bildillustrierten waren zentrales Feld der Verbreitung und Verhandlung populärkultureller Diskurse. Dies gilt insbesondere auch für die ab 1924 erscheinende Wiener Zeitschrift „Die Bühne. Wochenschrift für Theater, Film, Mode, Kunst, Gesellschaft, Sport“, die Hoch- und Populärkultur verknüpfte und einen modernen urbanen, vordergründig „unpolitischen“ Lebensstil präsentierte. Am Beispiel der Inszenierung des Themas Freizeitgestaltung (Motorismus, Kino u.ä.) in der „Bühne“ soll untersucht werden, wie bzw. inwiefern Jewish Difference über einen scheinbar „neutralen“ Lifestyle – explizit wie implizit – ausverhandelt wurde. Denn bis zur Arisierung der Zeitschrift im Jahr 1938 waren viele der Beiträger_innen Jüdinnen und Juden, zudem fokussierte die „Bühne“ auf (populär-)kulturelle Bereiche, in denen sich, so die Annahme, Jüdinnen und Juden besonders engagierten.
Michaela Raggam-Blesch (Wien): Prekäres jüdisches Leben in Wien, 1943-45. „Mischehefamilien“ und „Ältestenrat“
Der Vortrag untersucht jüdisches Leben in den letzten Jahren des NS-Regimes in Wien. Dieser Zeitraum wurde in der Holocaust Forschung oft vernachlässigt, da nach dem Abschluss der großen Deportationen nur mehr eine kleine heterogene Gruppe in Wien verblieb, die nach NS-Gesetzen als jüdisch definiert wurde. Der Großteil dieser Menschen war als Mitglied einer „Mischehefamilie“ durch eine/n „arische/n“ Ehepartner/in oder Elternteil vor Deportation geschützt. Da Jüdinnen und Juden (NS-Definition) in nichtjüdischen Institutionen nicht mehr betreut wurden, mussten jüdische Institutionen für „Mischehefamilien“ aufrechterhalten werden. Aus diesem Grund konnten auch einige Angestellte des „Ältestenrats“ (Nachfolgeorganisation der IKG) über ihre Funktion als Ärzt_innen, Pfleger_innen, Köch_innen, Reinigungspersonal oder Beamt_innen in Wien verbleiben. Der Vortrag wird sich den Interaktionen zwischen den unterschiedlichen Mitgliedern dieser Zwangsgemeinschaft und deren prekärem Überleben widmen.