44 I Zwischen Alltag und Akte. Gesellschaftliche Wirkmächtigkeit von bürokratisiertem Expertenwissen

 
7. April 2018
16:00–17:30
Seminarraum 8


Laurens Schlicht (Berlin)
Wahrheitstechnologien. Psychologische Glaubwürdigkeitsgutachten über minderjährige Zeugen als juristische Technik des Umgangs mit sexueller Gewalt am Beispiel Karl Marbe (1869–1953)


Ina Friedmann (Innsbruck)
„… dass auch das Mädchen daran recht interessiert war.“ Sexuelle Gewalt in den Akten der Heilpädagogischen Abteilung der Wiener Universitäts-Kinderklinik im 20. Jahrhundert


Nora Bischoff (Berlin)
Akten als Arenen der Aushandlung am Beispiel der Jugendfürsorge in Tirol und Vorarlberg (1945–80)

 

Im 19. Jahrhundert gewann das Expertengutachten in Justiz, Fürsorge und Medizin hinsichtlich der Beurteilung von Devianz und der einhergehenden behördlichen Maßnahmen an Bedeutung. Nicht allein die Festschreibung von Narrativen der „Ab-/Normalität“ ist an kumulierten Akten dieser Gebiete ablesbar. Zugleich zeigt der Stellenwert, der den Expertisen eingeräumt wurde, den institutionellen Wunsch nach Reglementierung und das Vertrauen auf Expertenwissen. Eine diskursgeschichtlich orientierte Auswertung solcher Korpora zeigt, dass die aktenmäßig verfassten Kommunikationsabläufe in diesen Feldern meist asymmetrische Sprecher_innen-Positionen zugunsten der Expertenaussagen etablierten. Die Vorträge des Panels behandeln an exemplarischen Fallstudien diese Machtwirkungen von Aktendokumenten, die zugrunde liegenden epistemischen Techniken, die Bezüge zwischen alltäglichen und institutionellen Diskursarenen und die bis heute wirksame Verflechtung zwischen Recht, Fürsorge, Pädagogik und Medizin.

 

Chair: Sonja Matter (Bern)

Laurens Schlicht (Berlin): Wahrheitstechnologien. Psychologische Glaubwürdigkeitsgutachten über minderjährige Zeugen als juristische Technik des Umgangs mit sexueller Gewalt am Beispiel Karl Marbe (1869–1953)

Psychologische Glaubwürdigkeitsgutachten wurden am Anfang des 20. Jahrhunderts dann angefragt, wenn ein Verfahren wegen Missbrauchs auf der Aussage von minderjährigen Zeugen beruhte. Für die junge Disziplin der Psychologie boten die in der Regel auf Akteneinsicht beruhenden Gutachten eine Möglichkeit, öffentlich sichtbar gesellschaftlich erforderliches Expertenwissen zu demonstrieren. Die bis heute andauernde Relevanz des Glaubwürdigkeitsgutachten als richterliche Entscheidungshilfe ist nur vor dem Hintergrund eines komplexen Wechsels von Subjektpositionen und epistemischen Techniken unterschiedlicher zeitlicher Tektonik verständlich. Der Beitrag verfolgt am Beispiel des Psychologen Karl Marbe zwei Möglichkeitsbedingungen des psychologischen Glaubwürdigkeitsgutachtens: zum einen die Subjektposition des sexuell verdorbenen Kindes, zum anderen die Transformationen des deutschen strafrechtlichen Systems, dessen starke Betonung der richterlichen Entscheidungskompetenz ein Bedürfnis nach externer Versicherung generierte.

Ina Friedmann (Innsbruck): „… dass auch das Mädchen daran recht interessiert war.“ Sexuelle Gewalt in den Akten der Heilpädagogischen Abteilung der Wiener Universitäts-Kinderklinik im 20. Jahrhundert

Der Heilpädagogischen Abteilung der Wiener Universitäts-Kinderklinik kam in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Schlüsselposition im Umgang mit ‚verhaltensauffälligen‘ Minderjährigen zu. So wurden hier Festschreibungen „ab-/normaler“ Verhaltensweisen von weitreichender Bedeutung geformt. Im Kontext von sexueller Gewalt erlangten diese Kategorisierungen große Relevanz, besonders in Gerichtsgutachten zu Glaubwürdigkeit und „Mitschuld“ der Minderjährigen. Speziell die unter Hans Asperger ab 1935 entwickelten Denk- und Sprachmuster sind über Dekaden greifbar. Hatte sich institutionell spätestens Ende des 20. Jahrhunderts eine differenzierte Wahrnehmung durchgesetzt, so sind im medialen Diskurs bis heute Sichtweisen präsent, die auf Konzepte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückgehen. Festigung und Weiterwirken der von heilpädagogischen Experten formulierten Sichtweisen zu sexueller Gewalt werden anhand von Akten und Fachpublikationen sowie Medienberichten sichtbar gemacht.

Nora Bischoff (Berlin): Akten als Arenen der Aushandlung am Beispiel der Jugendfürsorge in Tirol und Vorarlberg (1945–80)

Anhand der Analyse von Jugendfürsorgeakten aus Tirol und Vorarlberg, die zwischen 1945 und 1980 „Davonlaufen“ und „Herumtreiben“ als besonderen Problemfall der „Verwahrlosung“ thematisierten, wird gezeigt, dass Akten nicht nur „Gedächtnis der Verwaltung“, sondern auch Arenen der Aushandlung und Orte narrativer Sinnstiftung sind. Sie enthalten ein Ensemble von (formalisierten) Dokumenten, die als kommunikative Akte mit narrativen Eigenlogiken analysiert werden können. Die in „Expertenaussagen“ enthaltenen Zuschreibungen (u.a. von Schule, Jugendamt, Erziehungsheim, Heilpädagogik/Psychiatrie, Arbeitsamt) verdichteten sich in der Aktenkommunikation zu spezifischen diskursiven Wahrheiten. So produzierten Akten diskursive Ausschlüsse, die als Ausdruck wie auch Befestigung der Machtasymmetrie zwischen den Akteuren zu sehen sind. Zugleich entfalteten sie durch ihren Einfluss auf das behördliche Handeln eine performative Kraft mit entscheidenden Auswirkungen auf die Biografien der Befürsorgten.