17 I Wahrnehmung und Anerkennung von Gewalt in Umbruchsituationen: Europa und Nordamerika 1917–1923

 
6. April 2018
10:45–12:15
Seminarraum 4



Markus Wurzer (Graz)
„Morgen geht’s hinein in die Hölle.“ Selbsterzählungen zu Gewalt im Ersten Weltkrieg


Verena Moritz (Wien)
Die Russische Revolution 1917. Wahrnehmungen und Einschätzungen von österreichischen „Zeugen“ des Umbruchs


Daniel Hanglberger (Linz)
Garveyism und Gewalt


Marcus Gräser (Linz)
Bürgertum und Gewalt in Österreich und Deutschland 1918–1923

 

Die Umbruchphase zwischen 1917 und 1923 war in hohem Maße durch politische Gewalt von Akteuren außerhalb des staatlichen Gewaltmonopols gekennzeichnet. Während dieser Umstand in der Forschung lange als trivial behandelt wurde, hat sich die Perspektive durch die neue Gewaltforschung mittlerweile geändert: Das Kriegsende wird nicht mehr als Zäsur konzeptionalisiert, transnationale vergleichende Perspektiven werden angestrebt und das Augenmerk hat sich auf die Situationsabhängigkeit des Gewaltraums gerichtet. Gleichwohl hat die populäre Anthropologisierung der Gewalt bisweilen ein ‚düsteres‘, aber nicht ein exaktes Bild der Zustände gezeichnet. Das hier vorgeschlagene Panel will mit einem eher sozialwissenschaftlichen Blick analysieren, wie soziale Gruppen und einzelne Akteure Gewalt in der Endphase des Kriegs und den Jahren danach wahrnahmen, ob und wie sie ihr diskursiv Anerkennung und Legitimation angedeihen ließen und so vielleicht zur Disposition beitrugen, selbst Gewalt auszuüben.

 

Chair: Stefan Karner (Graz)

Markus Wurzer (Graz): „Morgen geht’s hinein in die Hölle.“ Selbsterzählungen zu Gewalt im Ersten Weltkrieg

Der vorgeschlagene Beitrag rückt die Gewaltforschung zum Ersten Weltkrieg näher an das historische Subjekt heran, indem er auf Selbstzeugnisse wie Tagebücher als historische Quellen zugreift. Ziel ist es, Selbsterzählungen zu Gewalt an der Front eingesetzter Soldaten in den analytischen Blick zu nehmen. Folgende Fragen sollen untersucht werden: Welche Formen von Gewalt erfuhren Soldaten? Wie verhielten sie sich zu ihr und deuteten ihre Erfahrung? Wie konfigurierten Sie Erzählungen über Gewalt? Welche Funktionen erfüllte diese in Selbsterzählungen? Sind Prozesse der Normalisierung von und dadurch zur Selbstermächtigung von Gewaltausübung beobachtbar? Wie wurde Gewalt legitimiert, wann wurde sie verurteilt? Das umfangreiche Tagebuch des Sanitätskadetten Bernhard Veitl (geb. 1896) dient dem Vortrag als Fallbeispiel. Veitl war von 1915 bis 1918 an der Italienfront eingesetzt, wo er unter anderem auch die letzten beiden Isonzoschlachten sowie den Zusammenbruch der k.u.k. Armee miterlebte.

Verena Moritz (Wien): Die Russische Revolution 1917. Wahrnehmungen und Einschätzungen von österreichischen „Zeugen“ des Umbruchs

Viele „Zeugen“ der Russischen Revolution 1917 haben ihre Erlebnisse und Betrachtungen verschriftlicht und zum Teil auch veröffentlicht. Die Vielzahl an Publikationen berücksichtigt auch den Blick „von außen“, von Ausländern, die sich aus unterschiedlichen Gründen 1917 in Russland aufhielten. Einen unmittelbaren Blick auf die Geschehnisse im Zarenreich warfen u. a. auch k.u.k. Soldaten und Offiziere, die in russische Kriegsgefangenschaft geraten waren oder aber Diplomaten des Habsburgerreichs. Im Fokus auch der zum Teil verschriftlichten Beobachtungen ist vielfach das Erleben von Gewalt – als Zeuge ebenso wie als Opfer. Im Vortrag wird speziell auf Quellen aus dem Kriegsarchiv in Wien eingegangen, die aus den Jahren 1917 und 1918 stammen und Eindrücke des Erlebten zeitnahe wiedergeben. Gleichzeitig sollen die speziellen Perspektiven dieser Wahrnehmungen problematisiert werden, vor allem auch in Hinblick auf die Frage nach der Definition von „Gewalt“ und deren „Legitimation“.

Daniel Hanglberger (Linz): Garveyism und Gewalt

In den turbulenten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg (Red Scare, Red Summer) formierte sich in den USA die bis dahin größte schwarz-nationale Bewegung um den charismatischen Anführer Marcus Garvey. Ausgehend von New York verbreitete sich diese rapide sowohl in urbanen Zentren als auch im ländlichen Süden. Im Vortrag wird die Bedeutung von Gewalt – einerseits in ihrer Form des passiven Erleidens durch die Afroamerikaner („race riots“, lynchings) und andererseits als Instrument in den Strategien zur Erreichung schwarz-nationaler Ziele – für die Entwicklung der Bewegung analysiert.

Marcus Gräser (Linz): Bürgertum und Gewalt in Österreich und Deutschland 1918–1923

Die Frage nach Bürgertum und Gewalt in der Nachkriegszeit in den beiden Verliererstaaten Deutschland und Österreich will nicht primär das Bürgertum als Objekt oder Subjekt politischer Gewalt in den Blick nehmen. Die Frage nach Bürgertum und Gewalt gewinnt Relevanz, nicht weil das Bürgertum als solches ein Gewaltakteur gewesen ist – das war es, bis auf Ausnahmen, nicht -, und auch nicht, weil das Bürgertum in der Nachkriegszeit überproportional Gewalt hat erdulden müssen – das war auch nicht der Fall. Es geht vielmehr um die Wahrnehmung und diskursive Einschätzung von Gewalt, so wie sie etwa aus Tagebüchern und Veröffentlichungen der bürgerlichen Presse herausgelesen werden kann. Wird Gewalt dabei als legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung angesehen; gar als eines, das bürgerlichen Interessen nutzbar gemacht werden kann? In jedem Fall entscheidet sich an der Einstellung zur Gewalt auch die Haltung zur Demokratie.