4 I Die 1970er-Jahre als globale Epochenwende?

 
5. April 2018
12:30–14:00
Seminarraum 8


Brigitte Aulenbacher (Linz)
Care als „fiktive Ware“?  

Ulrich Brand (Wien)
Von der „imperialen“ zur „solidarischen Lebensweise“?

Ernst Langthaler (Linz)
Von der „national farm“ zur „world farm“?

 

Die 1970er-Jahre treten langsam, aber bestimmt in den Horizont der historischen Sozial- und Kulturwissenschaften. Das Panel beleuchtet dieses Jahrzehnt unter einem globalhistorischen Blickwinkel: Was spricht für oder gegen die Charakterisierung der 1970er Jahre als einer globalen Epochenwende? Das Theorieinstrumentarium zur empirischen Beantwortung dieser Frage aus interdisziplinärer – soziologischer, politologischer und historischer – Perspektive bietet Karl Polanyis "Great Transformation" (1944). In diesem epochalen Werk diagnostiziert der österreichische, in die USA emigrierte Wirtschaftshistoriker, -soziologe und -anthropologe eine das 19. und frühe 20. Jahrhundert umfassende „Doppelbewegung“ von liberalkapitalistischer Vermarktlichung und protektionistischen Gegenbewegungen. Das Panel erkundet in verschiedenen Feldern der Weltgesellschaft, inwieweit mit der Krise des globalen Kapitalismus in den 1970er-Jahren eine weitere "great transformation" in Gang kam, in der die gesellschaftliche Entwicklung unter den Vorzeichen der neoliberalen Globalisierung im Polanyischen Sinne umkämpft ist.

 

Chair: Marcus Gräser (Linz)

Brigitte Aulenbacher (Linz): Care als „fiktive Ware“?

Die 1970er Jahre markieren den Beginn einer neuen Stufe der Vergesellschaftung sozialer Reproduktion, die auch Care erfasst. Im Übergang vom Normalarbeitsverhältnis, Male Breadwinner-Modell und Wohlfahrtsstaat zu atypischer Beschäftigung, Adult Worker-Modell und Wettbewerbsstaat erodiert das fordistische Care Regime. Care wird seither im Rahmen neuer Governanceformen und der Transnationalisierung von Arbeit und Politik neu ausgerichtet und zum Wachstumsmarkt. Wie Care erbracht wird, ist privat-, gemeinwirtschaftlich, staatlich, im Haushalt, in Arbeitsteilungen nach Klasse, Geschlecht und Ethnizität, national, trans- und international in Bewegung. Der Beitrag sagt zuerst, warum von einer neuen Stufe der Vergesellschaftung sozialer Reproduktion gesprochen wird, zeigt dann im Rekurs auf Polanyi am Beispiel von Home Care Agencys, wie Care zu einer „fiktiven Ware“ wird, und fragt zum Schluss, inwiefern die „Bewegung“ der Vermarktlichung im Sinne einer „Doppelbewegung“ zu „Gegenbewegungen“ führt.

Ulrich Brand (Wien): Von der „imperialen“ zur „solidarischen Lebensweise“?

Aus den von der Regulationstheorie mit dem Begriff „Fordismus“ ausgearbeiteten Analysen des Nachkriegskapitalismus waren die 1970er–Jahre nicht nur eine Krise eben dieser Formation – inklusive eine Krise der Weltordnung. Sie waren eine Phase, in der die seit Beginn des Kolonialismus entstehende und nach dem Zweiten Weltkrieg in den kapitalistischen Zentren sich weitgehend durchsetzende „imperiale Produktions- und Lebensweise“ infrage gestellt wurde. Kritik an Naturzerstörung, ausbeuterischen Nord-Süd-Verhältnissen, an Konsumismus und Statusdenken. Ansätze im Rahmen der Alternativökonomie und Neuen Weltwirtschaftsordnung, nicht-zerstörerische Naturverhältnisse, Debatten um solidarische Formen der Arbeitsteilung waren Elemente, was man als Gegenbewegung gegen die kapitalistisch-imperiale Inwertsetzung der Welt und als „Konturen einer solidarischen Lebensweise“ bezeichnen kann. Wie ist diese Epoche aus heutiger Sicht einzuschätzen?

Ernst Langthaler (Linz): Von der „national farm“ zur „world farm“?

Der fordistische Kapitalismus der 1970er–Jahre suchte seine Krisenprobleme durch eine Neue Internationale Arbeitsteilung (NIA) zu lösen. Während die alte internationale Arbeitsteilung auf dem staatlich organisierten Austausch von Rohstoffen aus Entwicklungsländern gegen Fertigprodukte aus Industrieländern beruhte, stützte sich die NIA auf unternehmensgeleitete Verlagerungen von arbeits- und kostenintensiven Fertigungsschritten vom Globalen Norden in den Globalen Süden. Neue Wertschöpfungsketten unter der Regie multi- und transnationaler Unternehmen verknüpften Standorte in verschiedenen Weltregionen. Derartige Übergänge erfolgten nicht nur im Industrie-, sondern auch im Agrarbereich. Ähnlich der „newly industrialized countries“ traten „new agricultural countries“ auf der weltwirtschaftlichen Bühne auf. Inwieweit sich in den 1970er–Jahren die „national farm“ des neomerkantilistischen Nahrungsregimes zur „world farm“ des neoliberalen Nahrungsregimes wandelte und welche (Gegen-)Bewegungen sich an diese Vermarktlichung im Weltmaßstab knüpften, ist die Leitfrage des Beitrags.