8 I Die Umbruchsjahre 1918/19 aus jüdischer Perspektive
5. April 2018
14:15–15:45
Seminarraum 8
Gerald Lamprecht (Graz)
Jüdische Loyalitätsdiskurse zwischen Monarchie und Republik
Eleonore Lappin-Eppel (Wien/Graz)
Brüder oder Fremde? – Stellungnahmen der Wiener jüdischen Presse zur Frage der österreichischen Staatsbürgerschaft für galizische Juden
Thomas Stoppacher (Graz)
Keine Staatsbürgerschaft für Juden? Die Debatte um die Teilhabe der jüdischen Bevölkerung an der Ersten Republik als Fallbeispiel konkreter antisemitischer Politik
Ursula Mindler-Steiner (Graz)
Die (Neu-)Positionierungen der jüdischen Bevölkerung im österreichisch-ungarischen Grenzgebiet nach dem Ersten Weltkrieg
Der Zerfall der multiethnischen Imperien und die Gründung der sich als weitgehend homogene Nationalstaaten verstehenden Nachfolgeländer war eine lange Zeit in der Forschung vernachlässigte Zäsur in der europäisch-jüdischen Geschichte. Die im Zeitalter der Emanzipation eingeübten und erkämpften gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Gewissheiten wurden durch die neuen politischen und staatlichen Formationen ebenso wie den zunehmenden Antisemitismus in Frage gestellt. All das führte zu tiefgreifenden Umwälzungen innerhalb der jüdischen Gemeinden und zu kontroversiellen und für lange Zeit wirkmächtigen Debatten um die Position der Jüdinnen und Juden als Individuen ebenso wie als Gruppe innerhalb der neuen Staaten und Gesellschaften. Dieses Panel widmet sich unterschiedlichen Aspekten der Transformationen jüdischen Selbstverständnisses ebenso wie den Auseinandersetzungen um die Positionierung der jüdischen Bevölkerung in Staat und Gesellschaft am Übergang von der Habsburgermonarchie zur Republik (Deutsch)-Österreich.
Chair: Richard Kurdiovsky (Wien)
Gerald Lamprecht (Graz): Jüdische Loyalitätsdiskurse zwischen Monarchie und Republik
Der Untergang der multiethnischen Habsburgermonarchie sowie die Gründung neuer Nationalstaaten evozierte in Kombination mit einer Radikalisierung und Zunahme des Antisemitismus bei vielen Jüdinnen und Juden grundsätzliche Debatten über die Beziehung der jüdischen Bevölkerung zum Staat und ihre Position in der Gesellschaft. Marsha Rozenblit spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eingeübte dreiteilige Identität der österreichischen Jüdinnen und Juden, in der die Loyalität zur Monarchie und zur Dynastie ein zentrales Versatzstück war, gemeinsam mit der Monarchie zu einem Ende gekommen sei. Dieser Vortrag geht den innerjüdischen Debatten rund um Monarchie oder Republik nach und untersucht die komplexen Fragen von Loyalität und Identität in der revolutionären Umbruchsphase von 1918 und 1919. Als Quellen dienen die deutschsprachig-jüdische Presse ebenso wie einzelne Publikationen und Wortmeldungen führender Vertreter der Wiener jüdischen Bevölkerung.
Eleonore Lappin-Eppel (Wien/Graz): Brüder oder Fremde? – Stellungnahmen der Wiener jüdischen Presse zur Frage der österreichischen Staatsbürgerschaft für galizische Juden
Die jüdischen Kriegsflüchtlinge waren bereits während des Ersten Weltkrieges Hauptangriffsziel der Antisemiten gewesen, dies verschärfte sich mit der Gründung der Republik, da sie nun als unliebsame Fremde galten. Da der Kampf gegen den Antisemitismus ein wichtiges Anliegen der jüdischen Presse war, konnte sie diese Anfeindungen nicht unwidersprochen lassen. Die zionistische Presse hatte den Vorteil, dass sie stets von der Einheit des jüdischen Volkes ausging und die galizischen Juden daher bedingungslos unterstützte. Schwieriger war dies für die liberale jüdische Presse, denn diese musste das Bestreben der österreichischen Jüdinnen und Juden, sich in Deutschösterreich neu zu positionieren, mit dem Eintreten für die Rechte der galizischen Juden verbinden. Der Vortrag wird zeigen, wie die Wiener jüdische Presse die Position der galizischen Juden in den größeren Zusammenhang des Kampfes gegen Antisemitismus stellte. Der Fokus der Untersuchung liegt dabei auf den Jahren 1918 bis 1923, in denen die „Ostjudenhetze“ am stärksten war.
Thomas Stoppacher (Graz): Keine Staatsbürgerschaft für Juden? Die Debatte um die Teilhabe der jüdischen Bevölkerung an der Ersten Republik als Fallbeispiel konkreter antisemitischer Politik
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs erhoffte sich die jüdische Bevölkerung, dass nun die Zeit gekommen sei, in welcher die Juden in Anerkennung ihres Patriotismus und dem Leisten des Kriegsdienstes endlich als gleichwertige Staatsbürger akzeptiert werden. Doch als nach Kriegsende der Diskurs um die Zugehörigkeit zur jungen Republik aufkam, wurde klar, dass diese Hoffnung Illusion blieb. Der Beitrag zeigt – basierend auf einer Analyse der stenographischen Protokolle aus dem österreichischen Parlament von 1917 bis 1923 – wie versucht wurde, den jüdischen Kriegsflüchtlingen aus Galizien und der Bukowina die Staatsbürgerschaft zu verwehren. Vor allem bei den Diskussionen um die Ausarbeitung und Umsetzung eines Staatsbürgerschaftsgesetzes, welches laut Bestimmungen des Friedensvertrages von St. Germain ehemaligen österreichischen Staatsbürgern unter gewissen Umständen erlauben sollte für die neue Republik zu optieren, wurde deutlich, wie mit antisemitischen Ressentiments Politik gemacht wurde.
Ursula Mindler-Steiner (Graz): Die (Neu-)Positionierungen der jüdischen Bevölkerung im österreichisch-ungarischen Grenzgebiet nach dem Ersten Weltkrieg
Der Vortrag widmet sich der Frage nach den Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf Jüdinnen und Juden im österreichisch-ungarischen Grenzgebiet. Diese betraf nicht nur ihr Selbstverständnis als „jüdisch“/„deutsch“/„ungarisch“ und die Frage der diesbezüglichen nationalen Loyalitäten; sie umfasst im weiteren Sinne auch jene Themen, mit denen sie in Österreich noch in den 1920er-Jahren konfrontiert waren: Sprachbeherrschung(en), Heimatzuständigkeit, Staatsbürgerschaft und damit einhergehende „nationale Identifikationen“ – aber auch erneute Konfrontation mit Antisemitismus. Nicht zuletzt spielen Migrationen, auch innerhalb der Gemeinden, eine Rolle. Die Aufgabe des ungarischen und (Teil-)Anpassung an das österreichische Recht stellten für die orthodoxen wie neologen Kultusgemeinden eine enorme Herausforderung dar, bedeuteten sie doch umfassende Umstrukturierungen und teilweise Schlechterstellungen; dies führte zu heftigen Debatten, aus denen die orthodoxen Gemeinden geschwächt hervorgingen.